Dokumentation Internet-Experiment "Textverstehen",
durchgeführt am "Web-Labor für Experimentelle Psychologie"
Die beiden Texte dieses Experiments wurden in zwei experimentellen Bedingungen dargeboten, wobei in der cheating-Bedingung ein betrügerischer Sozialaustausch dargestellt wird, und in der Weitergabe-Bedingung ein nicht-betrügerischer Sozialaustausch. Beide Bedingungen unterscheiden sich lediglich hinsichtlich eines einzigen kritischen Satzes. Konkret erfolgt beispielsweise in der cheating-Bedingung als Leistung die Zahlung von 500.000 DM an den Präsidenten eines Fußballvereins und als Gegenleistung die Vergabe eines Auftrags zu stark überhöhten Preisen an einen Unternehmer. In der Weitergabe-Bedingung gibt der Protagonist hingegen die von dem Außenstehenden empfangene Leistung an diejenigen weiter, an die er über seinen Sozialvertrag gebunden ist, gegebenenfalls in leicht veränderter Form.
Da Texte in der Weitergabe-Bedingung trotz der geringen Veränderung an der Textoberfläche eine völlig andere Struktur als Texte in der cheating-Bedingung aufweisen, sollten Leser keinen Betrug inferieren, wenn ihr Textverstehen einer quasi automatischen individuellen Betrugserkennung folgt. Findet jedoch eher eine arbeitsteilige Betrugserkennung statt, bei der die eigentliche Betrugserkennung dafür zuständigen Experten wie Polizisten, Staatsanwälten oder Journalisten überlassen wird, sollten sie keinen Betrug inferieren. Falls die Betrugserkennung jedoch Komponenten beider Theoriegruppen aufweist, sollten Leser Texte in der cheating-Bedingung an eine zuständige Instanz weiter verweisen. Diese Option haben wir mit einem Testsatz realisiert, in dem die Probanden gefragt werden, ob sie sich über den Protagonisten des Textes beschweren würden.
Wie bereits ein früheres Experiment (Schmalhofer et al. 1999) haben wir auch das vorliegende am World Wide Web durchgeführt, und zwar über das "Weblabor für Experimentelle Psychologie" (http://www.psych.unizh.ch/genpsy/Ulf/Lab/WebExpPsyLab.html). Durchaus der damit einher gehenden Probleme (vgl. für eine Diskussion Krantz. & Dalal, 2000; Reips, 2000) bewußt, haben wir diese Möglichkeit der Datensammlung gewählt, um eine größere Stichprobe als bei Laborexperimenten zumeist möglich auswerten zu können, wobei diese Stichprobe des weiteren aus einer geographisch breiter verteilten Population gezogen wird.
Methode
Probanden: Das Experiment wurde von 92 Versuchspersonen (35 männlich, 55 weiblich, 2 ohne Angabe), vollständig bearbeitet. Ihr Alter lag bei 16 Probanden zwischen 0 und 20 Jahren, bei 52 Probanden zwischen 21 und 30 Jahren und bei 24 Probanden zwischen 31 und 55 Jahren. Von ihnen hatten 1,1 % einen Hauptschulabschluß, 12 % die Mittlere Reife und 86,9 % Abitur. Für ihre Teilnahme wurden unter den Probanden verschiedene Preise verlost.
Apparatur: Das Experiment wurde unter Verwendung von HTML und CGI-Skripten (Kim, 1997) auf einem Unix-Server der Universität Heidelberg implementiert. Die Probanden konnten dadurch mit den üblichen Browsern (Netscape Communicator, Microsoft Internet Explorer, etc.) an dem Experiment teilnehmen. Die von dem Server gesammelten Daten wurden dem Versuchsleiter automatisch per e-mail zugesandt.
Material und Design: Den Versuchspersonen wurden neben einem Übungstext zwei Experimentaltexte präsentiert. Durch eine schriftliche Instruktion sollten die Leser dazu veranlaßt werden, nicht, wie sie es zumeist tun, den Text aus der Perspektive des Protagonisten zu lesen (Black & Bower, 1980; Bower & Morrow, 1990), sondern aus der Perspektive desjenigen, der in der cheating-Bedingung betrogen wird. Aufgrund dieser Manipulation erwarten wir, daß die Versuchspersonen die Texte, da es quasi um ihre eigenen Interessen geht, umso aufmerksamer lesen.
Jeder der Versuchspersonen wurde einer der Texte in der cheating-Bedingung und der andere in der Weitergabe-Bedingung dargeboten. Um zu überprüfen, ob die Versuchspersonen die cheating-Bedingung im Sinne eines Betrugs interpretieren, wurden ihnen unabhängig von der experimentellen Bedingung die in nachstehender Tabelle wiedergegebenen Testsätze vorgegeben.
Testsätze | |
1 | Als Fußballfan würde ich mich über Gerhard Koch beschweren. |
2 | Ich würde mich nicht beschweren, weil es dazu keinen Grund gibt. |
3
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Ich würde mich nicht beschweren, weil ich mich hier nicht gerne einmischen möchte.
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Ablauf: Die Probanden wurden über einen Zufallsgenerator einer der vier Versuchspersonengruppen zugewiesen. Jeder der Gruppen wurde neben einem Übungstext zwei Experimentaltexte präsentiert, wobei einer dieser Texte in der cheating-Bedingung und der andere Experimentaltext in der Weitergabe-Bedingung dargeboten war. Gruppe 1 und 3 und Gruppe 2 und 4 lasen dieselben Texte, nur daß deren Reihenfolge vertauscht war.
Vor jedem Experimentaltext wurden die Probanden instruiert, sich in die Situation desjenigen hineinzuversetzen, der in der cheating-Bedingung betrogen wird. Nach dem Lesen der ersten sechs Sätze des Textes, die zusammen als Block dargeboten wurden, sollten die Versuchspersonen beantworten, welche Gefühle sie den Akteuren des Textes zuschreiben würden, wozu sie aus einer Scroll-Leiste ein entsprechendes Gefühl auswählen sollten. Dieser Abfrage folgte die Präsentation der restlichen Sätze des Textes die wie schon die ersten zusammen dargeboten wurden. Danach wurde die Abfrage über die Emotionen der im Text vorkommenden Personen in derselben Form wie zuvor wiederholt.
Am Ende eines jeden Textes sollten die Probanden die oben wiedergegebenen Testsätze beantworten. Abschließend wurden die Versuchspersonen gebeten, den sozialen Status des Protagonisten in der Gesellschaft und für sich selbst getrennt auf einer Skala von 3 über 0 bis +3 einzuschätzen.
Ergebnisse
Von den 92 Versuchspersonen, die das Experiment vollständig bearbeitet hatten, wurden vier ausgeschieden, um für jede der experimentellen Bedingungen eine gleich große Anzahl an Beobachtungen sicherzustellen. Grundlage der Auswertung sind daher immer die Ergebnisse von 88 Probanden.
Obwohl in den unterschiedlichen Versionen der Experimentaltexte lediglich ein einziger Satz manipuliert worden war, ergaben sich deutliche Unterschiede bei der Zustimmung der Probanden zu dem Testsatz, daß sie sich über den Protagonisten Partner beschweren würden. Die Zustimmung der Versuchspersonen zu dem Satz, daß sie sich über den potentiellen Betrüger beschweren würden, war in diesem Experiment ziemlich groß: In der cheating-Bedingung würden sich 77,3 % über den Protagonisten beschweren, während es für die present-Bedingung nur 11,4 % sind. Dieser deutliche Unterschied zwischen den experimentellen Bedingungen spricht für eine arbeitsteilige Betrugserkennung in Gruppen, da die Verantwortung für das Fällen eines endgültigen Betrugsurteils an eine entsprechende gesellschaftliche Instanz weitergeleitet wird; allerdings liegt dem wohl eine individuelle Vorform der Betrugserkennung zu grunde, denn ohne eine solche würden die Probanden ja nicht Verdacht schöpfen, daß irgend etwas "nicht mit rechten Dingen zugeht". Ein großer Unterschied zwischen den experimentellen Bedingungen ergab sich weiterhin im Hinblick auf die an den betrogenen Sozialpartner attribuierten Emotionen: Im ersten Experimentaltext wurden diesem in der cheating-Bedingung in ca. 40 % der Fälle Entsetzen zugeschrieben, während es in der present-Bedingung in ca. 80 % der Fälle Freude war; im zweiten Experimentaltext wurden in der cheating-Bedingung ca. 50 % Ärger zugeschrieben und in der present-Bedingung ca. 80 % Freude. Diese Unterschiede sind wiederum starke Indizien für die Theorie der individuellen Betrugserkennung.
Bei der Einschätzung des sozialen Status des Protagonisten auf einer Skala von 3 über 0 bis +3 veränderte sich die persönliche Rangeinschätzung durch die Probanden in Abhängigkeit von der experimentellen Bedingung. Wiesen die Versuchspersonen dem Protagonisten im Text über den Hochschulassistenten in der Weitergabe-Bedingung einen Rang von 1,2 zu, waren es in der cheating-Bedingung bloß 0,6. Die Einschätzung des Ranges von seiten der Gesellschaft blieb durch die experimentelle Bedingung unberührt (0,8 für die Weitergabe-Bedingung, 0,8 in der cheating-Bedingung). Beim Text über den Fußballvereinspräsidenten verschlechterte sich dessen Ansehen für die Versuchspersonen persönlich von 0,5 in der Weitergabe-Bedingung auf 0,7 in der cheating-Bedingung, und auch die Einschätzung seines Ansehens in der Gesellschaft verringerte sich von 1,0 in der Weitergabe-Bedingung auf 0,7 in der cheating-Bedingung. Nimmt man diese Ergebnisse zusammen, so schätzten Probanden offenbar den sozialen Rang eines Akteurs persönlich dann geringer ein, wenn er einen betrügerischen Sozialaustausch ausgeführt hat. Dieser Effekt hinsichtlich der Einschätzung des gesellschaftlichen Ansehens scheint nicht so groß zu sein.
Literatur:
Black, J. B. & Bower, G. H. (1980). Story understanding as problem-solving. Poetics, 9, 223-250.
Bower, G. H. & Morrow, D. G. (1990). Mental models in narrative comprehension. Science, 247, 44-48.
Kim, E. E. (1997): CGI-Developers Guide: So funktionieren Web-Programmierung und Common Gateway Interface-Programmiertechniken für Profis mit Perl und C++. Haar bei München: SAMS.
Krantz, J. H. & Dalal, R. (2000). Validity of Web-based psychological research. In M. H. Birnbaum (Ed.), Psychology Experiments on the Internet (pp. 35-60). San Diego, CA: Academic Press.
Reips, U.-D. (2000). The Web Experiment Method: Advantages, Disadvantages, and Solutions. In M. H. Birnbaum (Ed.), Psychology Experiments on the Internet (pp. 89-117). San Diego, CA: Academic Press.
Schmalhofer, F., van Elst, L., Aschoff, R., Bärenfänger, O. & Bourne, L. E. Jr. (1999). Mentale Modelle sozialer Interaktionen: Wie Texte über Sozialbetrügereien verstanden werden. Zeitschrift für Experimentelle Psychologie, 46 (3), 204-216.