"So I'll remove the cause - hm hahaha - but not
the symptom!"
(Frank 'n' Further in The Rocky Horror Picture Show)
Es war Anfang der siebziger Jahre, als ein Forschungsprogramm begann,
welches den Glauben an eine quasi naturgegebene Rationalität des Menschen
erschütterte. Die Initiatoren dieses Programms, Kahneman und Tversky
(1972), und viele andere in ihrem Gefolge, berichteten wieder und wieder
über neuentdeckte Heuristiken und Täuschungen (heuristics and
biases). Berichte über anscheinend völlig irrationales Entscheidungsverhalten
(Hammerton, 1973), über falsche Gewichtung von Informationen wie zum
Beispiel den Basisraten (Kahneman & Tversky, 1973) und die Berücksichtigung
irrelevanter Tatsachen (Shanteau, 1975; Troutman & Shanteau, 1977) weckten
tiefe Zweifel am "gesunden Menschenverstand". Die Befunde, die
im Rahmen des Heuristics and Biases - Forschungsprogramms vorgelegt
wurden, wirkten als "Anomalien" (Kuhn, 1969) und stürzten
das bestehende Rationalitätsparadigma in eine Krise. Es begann das
große Sammeln der Fehler und Heuristiken und die Suche nach Möglichkeiten,
die "Fehler im Denken" durch Training und andere Maßnahmen
zu überwinden. Wie Klayman und Brown (1993) schreiben: "What is
wrong with the way people think, and what can be done to improve it?"
(S. 98).
In der Folge sind sowohl die experimentellen Operationalisierungen als auch
die Rationalitätsdefinitionen der Heuristics and Biases - Forscher
kritisiert worden und eine Gegenbewegung setzte ein, die Bedingungen fand,
unter denen Menschen sich (nun wieder) überraschend rational oder zumindest
nützlich verhielten (Cohen, 1981; Einhorn & Hogarth, 1981; Lopes,
1991). Eine Umorientierung setzte ein, die noch im Gange ist und in deren
Rahmen sich diese Arbeit stellt. Die Frage ist nicht mehr, ob Verhalten
rational oder irrational ist, sondern warum es unter bestimmten Bedingungen
so ist, wie es ist. Verhalten wird im situativen Kontext betrachtet und
auf mögliche zugrundeliegende, sich auch im Entwicklungsverlauf ändernde
(Wilkening & Lamsfuß, 1993), Mißkonzepte hin abgehorcht. Die
gegenwärtige Forschung konzentriert sich auf die Randbedingungen und
Prozesse der kognitiven Täuschungen. Ob diesen Randbedingungen und
Prozessen wiederum ein roter Faden und mithin ein neues Paradigma zugrunde
liegt, ist noch nicht verläßlich abzusehen. Es gibt allerdings
Bestrebungen, psychische Prozesse als mehr oder weniger adaptiv im
evolutionsdienlichen Sinne zu betrachten (J. R. Anderson, 1990, 1991; Cooper,
1989; Cosmides & Tooby, 1992; Gigerenzer, 1995; Platt & Griggs, 1993; Politzer
& Nguyen-Xuan, 1992). Ob Verstöße gegen eine bestimmte Form von
Rationalität wirklich als Täuschungen, Mißkonzepte, Heuristiken
oder Fehler verstanden oder gar irrational genannt werden können, bleibt
Gegenstand einer hitzigen Debatte (Kahneman & Tversky, 1996; Gigerenzer,
1996).
Eine der kognitiven Täuschungen, die seit Ende der siebziger Jahre
untersucht worden ist, ist die rational ungenügende Berücksichtigung
der Diagnostizität von Informationen. Diagnostizität ist
diejenige Eigenschaft einer Information, die angibt, wie gut sie zwischen
möglichen Zuständen der Welt zu unterscheiden hilft. So
sprechen wir etwa von einem hoch diagnostischen Symptom, wenn sein Vorliegen
klar auf eine Krankheit hindeutet und andere ausschließt. Fieber ist
hingegen zum Beispiel ein niedrig diagnostisches Symptom, da es uns bei
der Unterscheidung zwischen möglichen Krankheiten wenig hilft. Doherty,
Mynatt, Tweney und Schiavo (1979) boten ihren Versuchspersonen in einer
diagnostischen Aufgabe, in der es um das Herausfinden der Herkunftsinsel
eines im Meer gefundenen Gefäßes ging, mehrere Informationen
zur Auswahl an. Sie mußten feststellen, daß sich nur sehr wenige
der Versuchspersonen für die einzig sinnvolle Information, nämlich
die diagnostische Information, entschieden. Da die Versuchspersonen trotz
ihrer nutzlosen Informationsbasis mit Überzeugung eine der Inseln als
Herkunftsinsel benannten, ging das Phänomen unter dem Begriff "Pseudodiagnostizität"
(pseudodiagnosticity) in die Literatur ein. Andere Beispiele nichtnormativer
Berücksichtigung der Diagnostizität sind die urteilsbeeinflussende
Wirkung nichtdiagnostischer Informationen (Shanteau, 1975; Troutman & Shanteau,
1977) und Konfidenzphänomene (Griffin & Tversky, 1992). Wie in der
Forschung zu anderen kognitiven Täuschungen fanden sich in Studien
in den achtziger Jahren Ergebnisse, die eine normative Berücksichtigung
diagnostischer Informationen zeigen (Trope & Bassok, 1982, 1983; Skov &
Sherman, 1986). Die Forschung zu den Bedingungen des Auftretens von normativer
Diagnostizitätsnutzung hält an, konnte aber bislang kein überzeugendes
Erklärungsmodell liefern (Doherty, Chadwick, Garavan, Barr, & Mynatt,
1996; Slowiaczek, Klayman, Sherman, & Skov, 1992).
In dieser Arbeit soll die Vernachlässigung von Diagnostizität
aus einer anderen Perspektive angegangen werden. In jüngster Zeit ist
nämlich in Untersuchungen zum Erwerb von Kausalwissen mehrfach
belegt worden, daß Lern- und Schließprozesse von Vorwissen über
Kausaleigenschaften geleitet werden (Waldmann, 1994, 1996a, 1996b, 1996c;
Waldmann &
Hagmayer, 1995; Waldmann & Holyoak, 1992; Waldmann, Holyoak, & Fratianne,
1995; Waldmann & Reips, 1997). Je nachdem, welche kausalen Beziehungen im
Versuchsmaterial vorhanden waren, ergaben sich verschiedene kognitive Prozesse
bei den Versuchspersonen in diesen Untersuchungen. Insbesondere zeigte sich,
daß Lern- und Schließprozesse in Ursache Effekt-Richtung (prädiktiv)
andere Implikationen haben als solche in Effekt-Ursache-Richtung (diagnostisch).
Dies könnte heißen, daß manche der als kognitive Täuschungen
bekanntgewordenen Phänomene (1) auch durch die kausale Bedeutung hervorgerufen
werden könnten, die die einzelnen Elemente des Untersuchungsmaterials
aufweisen und (2) in ihrem Auftreten von der Kausalrichtung der Lern- und
Schließprozesse abhängig sein könnten. In einer Reihe von
Experimenten konnten wir beispielsweise zeigen, daß die sogenannte
Basisratenvernachlässigung (base rate fallacy) über die
Manipulation der kausalen Richtung des Wissenserwerbs hervorgerufen oder
unterdrückt werden kann (s. Kap. 3.2). Die Basisraten der Ursachen
in der Kausalstruktur des Lernmaterials werden nach diagnostischem Lernen
genutzt, nach prädiktivem Lernen hingegen mit steigender Komplexität
der Aufgabe bis zur Ignorierung vernachlässigt (Waldmann & Reips, 1997).
Während die Basisrate einer Ursache in einer Kausalstruktur die Eigenschaft
eines Elements ist, ist die Diagnostizität eines Effekts das
Verhältnis der Stärken mehrerer Kausalrelationen.Es stellt
sich die Frage, ob auch solche Kausalrelationen zweiter Ordnung (Relationen
von Relationen) beim Wissenserwerb in diagnostischer Lernrichtung anders
gelernt werden als in prädiktiver Richtung. Wenn dies tatsächlich
der Fall ist, dann könnte das weitreichende Folgen haben. Beispielsweise
ist es für Studierende der Medizin beim Erwerb von Wissen über
Krankheiten wichtig, die Diagnostizität von Symptomen in ihre kognitive
Repräsentation des Wissens zu integrieren. Geschieht dies eher bei
diagnostischem Wissenserwerb als bei prädiktivem Wissenserwerb, dann
sollte die medizinische Ausbildung entsprechend organisiert sein. Da medizinische
Lehrbücher allerdings überwiegend nach Krankheiten strukturiert
sind (Bordage & Lemieux, 1990; Kriel & A'Beckett-Hewson, 1986), ist die
Dominanz einer prädiktiven Wissensstruktur bei vielen Mitgliedern
des medizinischen Berufsstandes eher wahrscheinlich. Dies kann in der Praxis
ökonomisch und, schlimmer noch, gesundheitlich verheerende Folgen haben.
Im Anschluß an diese Einleitung wird in Kapitel 2 der gegenwärtige
Forschungsstand umrissen. Dazu werden Studien zum Umgang mit diagnostischen
Informationen vorgestellt (Kap. 2.2), wobei insbesondere auf die Bereiche
Pseudodiagnostizität (Kap. 2.2.2), Nichtdiagnostizität (Kap. 2.2.3),
Diagnostizitätsnutzung (Kap. 2.2.4) und Abduktion (Kap. 2.2.5) eingegangen
wird. In Kapitel 3.1 wird in die Theorie der Kausalmodelle (Waldmann,
1994) eingeführt und der Versuch unternommen, sie im Hinblick auf die
in dieser Arbeit untersuchten Fragen zu erweitern. Diese Erweiterung stützt
sich zum Teil auf eine Serie von Experimenten zur Basisratennutzung nach
prädiktivem und diagnostischem Kausalerwerb, die in Kapitel 3.2 geschildert
wird. Kapitel 3.3 beschäftigt sich mit Maßen für Diagnostizität.
In Kapitel 3.4 wird die Hypothese vorgestellt und aus einer zusammenfassenden
Darstellung des Theorieteils begründet, der mit diesem Kapitel seinen
Abschluß findet. Der Experimentalteil beginnt mit einer Zusammenfassung
der Vorversuche und setzt sich in der Darstellung von vier Experimenten
systematisch fort. Ein Diskussionsteil beschließt die Arbeit.